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Riga (etwas länger)

Letztes Jahr habe ich mir vorgenommen zum Baltic Honeybadger 2023 nach Riga zu reisen. Angedacht war eine Reise mit der Fähre von Stockholm nach Riga.

Aber erstens kommt es anders , zweitens als man denkt. Die Fährlinie existiert zur Zeit nicht mehr. Also war Flug angesagt. Nicht mehr so meins, aber ich wollte unbedingt hin.

Konferenzticket gekauft, Airbnb für 6 Tage und Flug Göteborg-Riga gebucht.

2 Wochen bevor es losgehen sollte, kam dann die Nachricht, dass mein Rückflug gecancelt sei und der nächste Rückflug erst drei Tage später stattfinden würde. Nach Prüfung aller Optionen, die mich alle mehr als 3 Tage und viel Geld gekostet hätten, habe ich mich in mein Schicksal ergeben. Im Rückblick wird klar, warum der Flug gestrichen wurde. Beide Maschinen waren nur zu maximal 1/3 ausgelastet.

Mein Airbnb konnte ich nicht verlängern, aber es fand sich ein weiteres auf der anderen Seite der Düna. Ich fand diesen ganzen Prozess ziemlich ätzend, so nach dem Motto, wenn ich wider Willen fliegen muss. Aber am Ende war alles gut genau so wie es war. Das Universum wusste es wohl von vorneherein besser.

Details der Bitcoin Konferenz erspare ich euch. Es war der Hammer und so voll gepackt mit Vorträgen, Workshops und Partys, dass ich nebenbei weder Zeit noch Energie für Sightseeing gehabt hätte. Von daher waren die 3 Extratage gerade recht.

Mein erster Eindruck von Riga aus der Luft während des Landeanflugs: oh weia, das sieht aber noch sehr sozialistisch aus.

Auf dem Boden, im Bus zu meiner Unterkunft verstärkt sich der Eindruck plus gigantisches motorisiertes Individualverkehrsaufkommen und entsprechender Stau stadteinwärts. Überall ukrainische Fahnen, gefühlt mehr als lettische. Naja, dachte ich anfangs, bei der Geschichte und mit Russland und Belarus als Nachbarn nicht ganz unverständlich. Aber irgendwie fühlte sich das nicht “echt” an, irgendwie aufgepfropft. Anyway…

Etwas, was ebenfalls sofort auffiel, war etwas, das im Vergleich zum Straßenbild hier, fehlte. Kopftücher! Ich habe in 9 Tagen keine einzige Muslima mit Kopfbedeckung gesehen und auch fast keine dunkelhäutigen Menschen, dafür mehr blaue Augen und rotblonde Haare als hier. Die Erklärung gab mir ein Konferenzteilnehmer: In Lettland gibt es nur 4 Monate Unterstützung für Geflüchtete (mit einer Ausnahme, kommt noch). Bis dahin musst du einen Job haben oder du musst das Land wieder verlassen.

Etwas anderes, dass ich nicht gesehen habe, obwohl ich wie üblich viel zu Fuß unterwegs war, waren Elektroautos. Dafür hatte ich das Gefühl, dass alle in D und S ausgemusterten Diesel, wie z.B. meiner, nicht etwa in Nigeria, sondern in Lettland gelandet sind. Diesel ist hier mit 1,67€ auch der billigste Kraftstoff. Eine gewisse geografische Entfernung zu Brüssel scheint durchaus Auswirkungen zu haben. Ausländische Kennzeichen habe ich fast nicht gesehen, einmal Estland und einmal Litauen. Das fand ich für eine Hauptstadt auch eher ungewöhnlich.

Meine erste Unterkunft hatte ich bei einer Dame in meinem Alter, einer Ärztin, die noch 2 Tage in der Woche praktiziert. Nadina spricht fließend sehr gutes Englisch und so hatten wir bei meinem Auszug ein gutes Gespräch. Was sie mir erzählt hat, lasse ich einfach mal kommentarlos hier stehen. Sie ist russische Lettin, von einer russischen Mutter, die auch Ärztin war, in Lettland geboren. Aufgewachsen ist sie größtenteils im Krankenhaus, wo ihre Mutter arbeitete. Da war nicht etwa ein Hort oder so, sondern ihre Mutter hat sie einfach mit an ihren Arbeitsplatz genommen. Studiert hat sie erst in Riga und dann in St. Petersburg. Irgendwann hat sie zwischendrin auch einmal 5 Jahre in Großbritannien gelebt und aus der Zeit einen britischen Pass. “Man weiß ja nie”. In Lettland gäbe es viele russischstämmige Menschen, die auch immer noch russisch sprächen, von daher habe Lettland defacto eigentlich 2 Amtssprachen. Das sei aber mit Putins Invasion in die Ukraine abgeschafft worden. Jetzt müssten alle lettisch sprechen. Fand sie unmöglich. Überhaupt sei der Krieg in der Ukraine ein Bürgerkrieg, eine Gruppierung gegen eine andere. Putin müsse halt nach seinen Grenzen schauen und die Amerikaner hätten ihre Finger in jedem Krieg drin. Aber im Grunde sei das alles einfach ein Bürgerkrieg und dass die reichen Ukrainer, die nach Lettland kämen, ein Jahr volle Unterstützung bekämen, alle anderen Geflüchteten weniger, sei eine Ungerechtigkeit. Nadina erzählte auch, dass es diesbezüglich große Spannungen in der Bevölkerung gäbe.

Damit hatte ich eine Erklärung für mein Gefühl, dass diese ganze zur Schau gestellte Solidarität nicht ganz echt war. Nach dem Gespräch mit Nadina habe ich vermehrt auf die Sprache um mich herum geachtet und tatsächlich viel Russisch wahrgenommen.

Im Zug an die Ostsee wurde ich übrigens Zeuge der Bevorzugung. der Ukrainer. Eine schick gemachte Dame neben mir zeigte statt einer Fahrkarte nur ihren ukrainischen Pass vor.

Meine zweite Unterkunft war ein Zimmer in einem sehr modernen, schick und geschmackvoll eingerichteten Appartment von einem Paar in seinen 30ern. Karola ist Optikerin und Martin arbeitete im Krankenhaus, sucht aber gerade einen neuen Job, weil die zwei sich ein halbes Jahr mit dem Motorrad durch Fernasien gegönnt haben. Sie vermieten dieses Zimmer mit Bad, um sich damit ihre nächste Reise zu finanzieren. Als ich ankam war zufällig gerade ein Kousin da, seinerseits Geschichtslehrer.

Da habe ich erfahren, dass die Russen (wie Nadinas Mutter) in Lettland meistens gut gebildete russische Dissidenten wären, die zu Sowietzeiten nach Riga in die Verbannung strafversetzt worden wären. Karola berichtete, dass tatsächlich viele ihrer Kunden nur russisch sprächen und dass es jetzt sehr schwer wäre denen etwas kompliziertere optische Sachverhältnisse auf lettisch verständlich zu machen. Diese junge Generation konnte übrigens in der Schule als 2. Fremdsprache zwischen Deutsch und Russisch wählen. Langzeitfolge der früheren deutsch-lettischen Geschichte? Genauso wie der Rigaer Dom, der zu Renovierungszwecken an Deutschland übergeben wurde, weil die Letten die Renovierung finanziell nicht stemmen können? Lettische Krankenpfleger/schwestern würden z.B. auch leichter in D genommen werden als in S.

Die jungen Leute haben mich auch dahingehend aufgeklärt, dass zwar Geflüchtete im Rahmen der allgemeinen Verteilung seitens der EU gekommen seien, dass die aber sowieso nicht vorgehabt hätten in Lettland zu bleiben. Die hätten vor allem nach Deutschland gewollt..

Ich liebe Airbnb im Ausland, weil ich da einfach so viel mehr erfahre als normaler Tourist im Hop-on-Hop-off-Bus. Dieser direkte Kontakt zu normalen Menschen ist mir wirklich sehr wertvoll. Dass sich das überträgt, merke ich an den Bewertungen, die sie mir ihrerseits schreiben.

Bilder habe ich natürlich auch noch für euch.

Riga ist Grandeur aus alter Zeit Rathaus, Petrikirche, Dom, Jugendstil, Nationaloper

Die Nationaloper beherbergt auch das Weltklasse Nationalballett, das Baryschnikov und Godunov hervorgebracht hat. Ich hatte das Glück eine überwältigende Inszenierung der “Carmina Burana” erleben zu dürfen.

Es gibt auch Kurioses wie das Schwedentor, das einfach durch ein bestehendes Haus gebrochen wurde, eine Statue der Bremer Stadtmusikanten (Städtepartnerschaft) oder das bestrickte Fahrrad am Wolladen.

Auf das Wollgeschäft müssen natürlich die lettischen Handschuhe folgen. Das ist aber eine eigene Geschichte, vielleicht später…

Alle handgestrickt von älteren Frauen. Wieviel Arbeitsstunden da wohl auf dem Tisch liegen?

Mit beschrankten Bahnübergängen hat man es hier auch nicht so. Ist eine Hauptbahnstrecke.

Es gibt natürlich auch moderne Bauwerke

aber auch sehr viel Renovierungsbedarf:

U.a. wegen dieser Holzhäuser wurde Riga in das UNESCO Weltkulturerbe aufgenommen.

Große Probleme gibt es wohl auch mit den “Plattenbauten” aus den 60ern die auf 40 Jahre Lebenszeit angelegt waren und am Zerfallen sind. Es fehlen die Mittel, um neu günstigen Wohnraum zu bauen und diese Gebäude einfach abzureissen. Also werden sie irgendwie notdürftig geflickt. Der Zerfall der Sowietunion hat Lettland zwar die Unabhängigkeit beschert, aber es ist auch vieles weg- bzw. eingebrochen. Riga war aufgrund seiner Lage an der ruhigen Rigaer Bucht wichtig für die Handelsschiffahrt der UdSSR. Das ist vorbei und so scheint vieles in der Stadt irgendwie überdimensioniert.

Ach ja, dann habe ich im Freiluftmuseum noch etwas entdeckt. Leider sprach die Dame, die das Anwesen betreute, fast kein Englisch und konnte mir nur erklären, dass die Giebelverzierungen KEINE Pferde wie bei uns auf dem Hof seien, aber nicht, was sie genau bedeuten. Da hätte ich Russisch brauchen können…

Was am Ende dieser Reise bei mir hängenbleibt, ist die Frage wie die 1,8 Millionen Letten all das wuppen wollen, was da noch zu wuppen ist. Auch angesichts dessen, was 80 Millionen Deutsche alles nicht schaffen. Mein ursprünglicher Reisegrund tritt dabei fast ein bisschen in den Hintergrund.

Werden die Letten es diesmal schaffen unabhängig zu bleiben? Ich wünsche es den hoffnungsvollen jungen Leuten, die ich kennengelernt habe, die sich freuen, dass ihr aktuelles Staatsoberhaupt wenigstens Englisch spricht und nicht nur Lettisch und Russisch und so ihr Land besser in der großen weiten Welt vertreten kann, von Herzen.